▶▶ Inhaltsverzeichnis Table of Contents
- 13.1 Der Naturalismus in der Moral und die physiologische Auffassung des Lebens
- 13.2 Nietzsches Begriff der Freiheit und seine Stellung zur Frage nach dem Sinn des Lebens
- 13.3 Das Leben als Sinn der Kunst
- 13.4 Die Psychologie des tragischen Künstlers
- 13.5 Der Einzelne und das Ganze
- 13.6 Die Umwertung aller Werte als „Schicksal von Aufgabe“
— Seite — Page 217Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht „Berufe“, genau deshalb, weil sie sich berufen weiss …
(GD, KSA 6.108)
13.1 Der Naturalismus in der Moral und die physiologische Auffassung des Lebens
Der im letzten Abschnitt von GM erhobenen Forderung einer unbefangenen Hand, um die ganze Erde zu „idealisieren“, und dem grundlegenden Sinnbedürfnis, die Lebensbedingungen zu ermitteln und einen Menschentypus zu bilden, um dem Nihilismus entgegenzuwirken, kommt Nietzsche ab der Götzen-Dämmerung nach. Mit diesem Werk beginnt er seine bejahende Phase und zeigt – der Untertitel verrät es –, „wie man mit dem Hammer philosophiert“: Es handelt sich um eine „grosse Kriegserklärung“. Es werden Fragen mit dem Hammer derart gestellt, dass „das, was still bleiben möchte, laut werden muss …“ (GD, KSA 6.57) Zu diesem Zweck horcht Nietzsche „ewige Götzen“ aus, „an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird, – es giebt überhaupt keine älteren, keine überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen … Auch keine hohleren … Das hindert nicht, dass sie die geglaubtesten sind; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze …“ (GD, KSA 6.58)
Es fällt unmittelbar auf, dass die ewigen Götzen nichts anderes als die bisher vom Menschen ewig vermeinten Ideale sind. Ideale sind abzuschaffen, weil „es mehr Götzen als Realitäten in der Welt [gibt]“ (GD, KSA 6.57). Nietzsche greift auf die im Laufe seines geistigen Schaffens immer häufiger eingesetzte Physiologie als privilegierten Zugang zur Realität zurück.[193] Von ihrem Standpunkt aus bewertet er die Ergebnisse seines Denkens. Der Mensch, die Gesellschaft, die Moral, die Geschichte usw. werden auf der Grundlage von Sinnen,[194] Instinkten und Kräften interpretiert. Daher betont Nietzsche das erkenntnistheoretische Potential unserer Sinne als Werkzeuge — Seite — Page 218der Beobachtung und spricht vom ersten Instinkt des Geistes, dem Selbsterhaltungsinstinkt (vgl. GD, KSA 6.104), vom verstehenden und erratenden Instinkt des Menschen (GD, KSA 6.118) und vom Ursachentrieb (GD, KSA 6.92).
Die systematische Anwendung der Physiologie auf sein Denken ermöglicht es Nietzsche, eine für ihn plausible Lösung dessen zu finden, was ihm am meisten erschreckt und herausfordert: „die décadence“, die ganz Europa betrifft und die Philosophie und die Moral seit Platon bestimmt hat. Die Formel der décadence lautet: „Die Instinkte bekämpfen müssen.“ (GD, KSA 6.73) Dasselbe kennzeichnet die Moral: „Moral, wie sie bisher verstanden worden ist – wie sie zuletzt noch von Schopenhauer formulirt wurde als „Verneinung des Willens zum Leben“ – ist der décadence-Instinkt selbst, der aus sich einen Imperativ macht: sie sagt: „geh zu Grunde!“ – sie ist das Urtheil Verurtheilter …“ (GD, KSA 6.86) Nietzsche zufolge beruht die „Décadence-Moral“ auf einer „physiologische[n] Thatsächlichkeit: […] Disgregation der Instinkte!“ (vgl. GD, KSA 6.133f.) Die décadence durchtränkt das menschliche Leben derart, dass „das Pathos sich verändert [hat], nicht bloss die Intellektualität.“ (GD, KSA 6.105) Das bedeutet, dass der Ernst, die Tiefe, „die Leidenschaft in geistigen Dingen abwärts geht“. Zugleich wird die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand immer kleiner, die Vielheit der Typen immer geringer, und „der Wille, selbst zu sein, sich abzuheben“ (GD, KSA 6.138), das Pathos der Distanz lässt immer mehr nach. Das bleibt nicht ohne Folgen, sondern wirkt sich maßgeblich auf die Gesellschaft aus:
Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, – die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit … Alle unsre politischen Theorien und Staats-Verfassungen, das „deutsche Reich“ durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Nothwendigkeiten des Niedergangs; die unbewusste Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissenschaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Sociologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die Verfalls-Gebilde der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als Norm des sociologischen Werthurteils nimmt. Das niedergehende Leben, die Abnahme aller organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter- und überordnenden Kraft formulirt sich in der Sociologie von heute zum Ideal … (GD, KSA 6.138f.)
Die décadence und ihre Überwindung machen das Hauptthema von GD aus. An ihr werden der Fortschritt und, wie folgend erörtert, der Wille zur Macht, die Kunst, die Freiheit, die Geschichte und das Individuum gemessen. Physiologisch gesehen, wird die décadence zum Phänomen des absteigenden Lebens und daher mit dem Christentum identifiziert. Einer solchen widernatürlichen Moral bzw. dem Christentum stellt Nietzsche aber nicht die Abschaffung der Moral im Ganzen entgegen. Er plädiert assertorisch für einen Naturalismus in der Moral:
– Ich bringe ein Princip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral, das heisst jede gesunde Moral ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht, – irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten Kanon von „Soll“ und „Soll nicht“ erfüllt, irgend eine Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit bei Seite geschafft. Die widernatürliche Moral, das heisst fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt gerade
— Seite — Page 219 gegen die Instinkte des Lebens, – sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche Verurtheilung dieser Instinkte. Indem sie sagt „Gott sieht das Herz an“, sagt sie Nein zu den untersten und obersten Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Feind des Lebens … Der Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Castrat … Das Leben ist zu Ende, wo das „Reich Gottes“ anfängt … (GD, KSA 6.85)
Um einen solchen Naturalismus zu verstehen, ist es hilfreich, von der Aussage auszugehen, dass das Leben laut Nietzsche aus einer auf- und einer absteigenden Linie besteht (vgl. dazu GD, KSA 6.131). Diese Dichotomie konstituiert das thematische Gefüge, in das Nietzsche sein Denken in GD einordnet und das er bisher versucht hat, unter verschiedenen Perspektiven, nämlich psychologisch, geschichtlich, philosophisch und etymologisch, zu interpretieren.[195]
Die Gegenüberstellung der „gesunden“ und der „widernatürlichen Moral“ macht zudem auch das Paradigma für die Gegenüberstellung der Moralisten und der Immoralisten aus.
Die Moral, insofern sie verurtheilt, an sich, nicht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens, ist ein spezifischer Irrthum, mit dem man kein Mitleiden haben soll, eine Degenerirten-Idiosynkrasie, die unsäglich viel Schaden gestiftet hat! … Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, Gutheissen. Wir verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, Bejahende zu sein. (GD, KSA 6.87)
Eine Moral, deren Wert absolut ist, die letzten Endes nicht auf das aufsteigende Leben zurückgeführt wird, ist lebensfeindlich.
13.2 Nietzsches Begriff der Freiheit und seine Stellung zur Frage nach dem Sinn des Lebens
Dasselbe gilt Nietzsche zufolge für die Gesellschaft. Eine physiologisch entartete Gesellschaft ist auch politisch und moralisch entartet. In ihr ist der „Fortschritt“ eine „Schritt für Schritt weiter in der décadence“ gerichtete Entwicklung und der Freiheitsbegriff ein „seinen Instinkten überlassensein“ (GD, KSA 6.143f.). Der modernen Gesellschaft sind jene Instinkte abhandengekommen, „aus denen Institutionen, aus denen Zukunft wächst […]. Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind, – man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man „Freiheit“.“ (GD, KSA 6.141) Daher ist „unser moderner Begriff „Freiheit“ ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr.“ (GD, KSA 6.143)
Nach Nietzsche ist Freiheit gerade das Gegenteil: „Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält.“ (GD, KSA 6.139) Der Freiheitsbegriff ist einer der bedeutsamsten in Nietz — Seite — Page 220sches Philosophie. Trotzdem wurde er in der Nietzsche-Forschung nicht genug beachtet. Wir haben bereits versucht, ihm auf die Spur zu kommen, und dabei festgestellt, dass Nietzsche, wie einige Philosophen vor ihm, von Freiheit im doppelten Sinn redet: Freiheit von und zu etwas. In GD wird die Freiheit im Zusammenhang mit dem Krieg untersucht. Der freie Mensch wird in Aphorismus 38 aus den „Streifzügen eines Unzeitgemässen“ als Krieger angesehen. Nur der Krieg erzieht zur Freiheit, weil er sie auf extreme Weise erzwingt: Sie wird durch den Krieg angestrebt und erkämpft. Dementsprechend sind die freigewordenen Menschen diejenigen, die nach ihrem stärksten Instinkt, ihrem Willen zur Macht handeln. Je nachdem, ob es sich um einen starken oder einen schwachen Willen handelt, wird Freiheit definiert als die Fähigkeit oder „Unfähigkeit, auf einen Reiz nicht zu reagiren“ (GD, KSA 6.83). Der Wille zur Macht paralysiert unter seinem eisernen Druck alle anderen Instinkte, um „zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden.“ (GD, KSA 6.143) Ein derartiger Wille ist etwa der „Wille zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infinitum“ (GD, KSA 6.141). Auf ihm beruhen die Institutionen. Eines ist dabei nicht zu übersehen: Der Krieg ist deshalb etwas wert, weil er zunächst im Inneren des Menschen stattfindet, gefühlt und zum Zweck der Selbstbeherrschung gekämpft wird. Das wird von Nietzsche am Beispiel unseres „inneren Feindes“ geschildert: Nur indem wir uns dem Feind entgegensetzen, fühlen wir uns notwendig, werden wir erst notwendig. Außerdem ist man nur schöpferisch, „nur fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein; man bleibt nur jung unter der Voraussetzung, dass die Seele nicht sich streckt, nicht nach Frieden begehrt …“ (GD, KSA 6.84) Der Krieg bringt uns in Gefahr, und es ist gerade „die grosse Gefahr […], die uns zwingt, stark zu sein …“ (GD, KSA 6.140) Daraus wird der Grundsatz abgeleitet: „man muss es nöthig haben, stark zu sein: sonst wird man’s nie“ und dementsprechend die Freiheit verstanden „als Etwas, das man hat und nicht hat, das man will, das man erobert …“ Bei Individuen und Völkern misst sich deshalb die Freiheit „nach dem Widerstand, der überwunden werden muss, nach der Mühe, die es kostet, oben zu bleiben.“ (GD, KSA 6.140)
Nietzsche sieht den Fortschritt als „Rückkehr zur Natur“ an, „aber nicht im Sinne von Zurückgehen, sondern von Hinaufkommen“ (GD, KSA 6.150). Man könnte daraus schließen, dass der Fortschritt die Selbstüberwindung sei, zu der uns die große Gefahr, die wir in uns erleben, zwingt. Der Wert der Freiheit und überhaupt von jeder Sache liegt also „nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man für sie bezahlt, – was sie uns kostet.“ (GD, KSA 6.139) Man wird frei, wenn man den Instinkten, „die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern“ (GD, KSA 6.140), ein Maß auferlegen kann. Anders gesagt, setzt die Freiheit eine strenge, mühsame und beständige Selbstdisziplinierung als ihre Grundbedingung voraus. Nietzsche sagt emphatisch: „Man hat auf das grosse Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet …“ (GD, KSA 6.84)
An dieser Stelle lassen sich folgende Fragen aufwerfen: Ist das große Leben das ganze Leben? Kann man vom Wert des Lebens im Allgemeinen reden? Ist das Leben — Seite — Page 221überhaupt etwas wert? Nietzsches letzte Antwort auf die seine ganze Philosophie durchdringende Frage nach dem Wert des Lebens lautet:
Man müsste eine Stellung ausserhalb des Lebens haben, und andrerseits es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle, die es gelebt haben, um das Problem vom Werth des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, dass das Problem ein für uns unzugängliches Problem ist. Wenn wir von Werthen reden, reden wir unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens: das Leben selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen … (GD, KSA 6.86)
Daraus folgt, „dass der Werth des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem Todten nicht, aus einem andren Grunde“ (GD, KSA 6.68). Es folgt weiter, dass „von Seiten eines Philosophen im Werth des Lebens ein Problem sehn dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit [bleibt]“ und dass wir trotzdem genötigt sind, Werte in unserem Leben anzusetzen. Ohne Werte kommen wir im Leben nicht aus.[196] Es gibt lebensfördernde und lebensverneinende Werte, und wenn das Leben durch uns wertet, geht es Nietzsche hauptsächlich darum, welche Art von Leben die angesetzten Werte darstellen. Urteile über das Leben sind zuletzt nur „Symptome“ einer bestimmten Art von Leben: „Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, – an sich sind solche Urtheile Dummheiten.“ (GD, KSA 6.68) Indem er nicht vom Leben „an sich“, sondern vom auf- oder niedergehenden Leben spricht, bildet Nietzsche die „metaphysische“ Frage „Ist das Leben überhaupt etwas wert?“ in die „physiologische“ Frage „Welche Art von Leben bringt ein Individuum zur Erscheinung?“ und in die „psychologische“ Frage „Welche Art von Leben drückt ein Werturteil über das Leben aus?“ um. Die neue Dichotomie der Instinkte des Lebens tritt an die Stelle der bisher die Nietzsche-Forschung dominierenden, berühmten und vielkommentierten Unterscheidung zwischen der „wahren“ und der „scheinbaren“ Welt.
Nietzsches physiologische Interpretation des Lebens dient der Aufwertung des Leibes:
man muss den Leib zuerst überreden. Die strenge Aufrechterhaltung bedeutender und gewählter Gebärden, eine Verbindlichkeit, nur mit Menschen zu leben, die sich nicht „gehen lassen“, genügt vollkommen, um bedeutend und gewählt zu werden: in zwei, drei Geschlechtern ist bereits Alles verinnerlicht. Es ist entscheidend über das Loos von Volk und Menschheit, dass man die Cultur an
— Seite — Page 222der rechten Stelle beginnt – nicht an der „Seele“ (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester und Halb-Priester war): die rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der Rest folgt daraus … Die Griechen bleiben deshalb das erste Cultur-Ereigniss der Geschichte – sie wussten, sie thaten, was Noth that; das Christenthum, das den Leib verachtete, war bisher das grösste Unglück der Menschheit. – (GD, KSA 6.149)
Nietzsche spielt dabei wohl mit der Semantik des Wortes „Leib“, das in seiner alten Bedeutung „Leben“ war. Der Leib ist nach wie vor der Leitfaden der Erkenntnis und des Lebens. Er öffnet wie bei Schopenhauer den eigentlichen Zugang zu uns und zur Welt. Wenn aber bei Schopenhauer der Leib der Erkenntnis des Wesens der Welt und des Menschen dient, dient er bei Nietzsche mutatis mutandis der Interpretation des Daseins und der Welt. Interpretiert Nietzsche Leben und Natur bisher in Analogie zum Leib, so versucht er jetzt, als Ausgangspunkt das Leben zu nehmen. Damit beabsichtigt er nicht, einen pauschalen ontologischen Naturalismus oder Vitalismus zu etablieren. Indem er den Einzelnen auf das Ganze bezieht, will Nietzsche die Lebensbedingungen zur Gestaltung einer Kultur zu ermitteln, um dem Einzelnen einen Halt im Leben zu geben, die Steigerung der Kräfte zu gewährleisten, einen Zugang zur Geschichte zu verschaffen und sein Handeln und Denken sinnvoll zu gestalten.
13.3 Das Leben als Sinn der Kunst
Die physiologische Auffassung des Lebens lässt sich auch auf die Kunst übertragen, die Nietzsche in Anschluss an GM als Gegenstück der décadence versteht. Nach der neuen Formulierung aus GD ist die Kunst „das grosse Stimulans zum Leben“ (GD, KSA 6.127), und zwar in dreifacher Hinsicht: erstens weil ihre physiologisch unumgängliche Vorbedingung der Rausch ist, durch den die Affekte des Menschen erregt und gesteigert werden.[197] Zweitens beruhen der Wille zur Macht und das ästhetische Urteil auf dem Gefühl des Schönen und des Hässlichen: „Physiologisch nachgerechnet, schwächt und betrübt alles Hässliche den Menschen […]. Sein Gefühl der Macht, sein Wille zur Macht, sein Muth, sein Stolz – das fällt mit dem Hässlichen, das steigt mit dem Schönen …“ (GD, KSA 6.124) Drittens wählt die Kunst etwas aus, bildet es um, hebt es hervor, bejaht und preist es.
Der Rausch des Willens ist „der Rausch eines überhäuften und geschwellten Willens.“ (GD, KSA 6.116) Es geht dabei wie im Zarathustra um Begeisterung – im berauschten Zustand ist der Mensch erregt und gesteigert. Er folgt seinem inneren Zwang, seinem untersten Instinkt, dem „der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung“ (GD, KSA 6.123), und stellt seine Hauptzüge heraus, so dass er damit die Dinge verwandelt, „bis sie seine Macht wiederspiegeln, – bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind. Dies Verwandeln-müssen in’s Vollkommne ist – Kunst. Alles selbst, was er nicht ist, wird trotzdem ihm zur Lust an sich; in der Kunst geniesst sich der Mensch als — Seite — Page 223Vollkommenheit.“ (GD, KSA 6.117) Das Gleiche spielt sich im Gefühl des Schönen ab: „Im Schönen setzt sich der Mensch als Maass der Vollkommenheit“ (GD, KSA 6.123). In diesem schöpferischen Zustand beschenkt er die Dinge mit Schönheit: „Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft: das Urtheil „schön“ ist seine Gattungs-Eitelkeit …“ Auf diese Weise vermenschlicht und idealisiert der Mensch die Dinge:
– Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die Dinge ab, man zwingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, – man heisst diesen Vorgang Idealisieren. Machen wir uns hier von einem Vorurtheil los: das Idealisiren besteht nicht, wie gemeinhin geglaubt wird, in einem Abziehn oder Abrechnen des Kleinen, des Nebensächlichen. Ein ungeheures Heraustreiben der Hauptzüge ist vielmehr das Entscheidende, so dass die andern darüber verschwinden. (GD, KSA 6.116)
Der Prozess des Idealisierens zeichnet die Kunst derart aus, dass sie die Passionen selbst idealisiert bzw. vergeistigt. „Der Begriff „Vergeistigung der Passion““ (GD, KSA 6.82) bezeichnet die Zeit, in der die Passionen „sich mit dem Geist verheirathen, sich „vergeistigen““ und dadurch alles, was wir tun, nachdenklicher, schonender, klüger wird. Nietzsche zielt damit nach wie vor auf eine Aufwertung der Sinnlichkeit, deren Vergeistigung Liebe heißt.
Vor diesem Hintergrund werden immer wieder Instinkte, Begierden und Gefühle zu „Wurzeln“ des Lebens. Ihre Ausrottung würde eine Verneinung des Lebens bedeuten. Dies wäre der Ausdruck eines schwachen Willens, eines degenerierten Menschen, einer lebensfeindlichen Gesellschaft. Physiologisch gesprochen, wäre es ein „Castratismus“, wie man ihn, in Einklang mit den in GM durchschauten asketischen Idealen, in der Praxis der Kirche findet:
Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem Sinne: ihre Praktik, ihre „Kur“ ist der Castratismus. Sie fragt nie: „wie vergeistigt, verschönt, vergöttlicht man eine Begierde?“ – sie hat zu allen Zeiten den Nachdruck der Disciplin auf die Ausrottung (der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der Rachsucht) gelegt. – Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst das Leben an der Wurzel angreifen: die Praxis der Kirche ist lebensfeindlich … (GD, KSA 6.83)
Die Hauptrolle der Kunst bei der Lebensgestaltung wird immer deutlicher und entscheidender. Eine bejahende, die Sinnlichkeit vergeistigende, vergöttlichende, verschönernde Praxis kann nur durch die Kunst erlangt werden, die bestimmte Wertschätzungen durch ihre ästhetischen Urteile „stärkt oder schwächt“.
Ist dies nur ein Nebenbei? ein Zufall? Etwas, bei dem der Instinkt des Künstlers gar nicht betheiligt wäre? Oder aber: ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler kann …? Geht dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das Leben? auf eine Wünschbarkeit von Leben? – Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l’art pour l’art verstehen? – (GD, KSA 6.127)
— Seite — Page 224Der Sinn der Kunst ist also das Leben und die Wünschbarkeit von Leben. Der Künstler geht von der Sinnlichkeit aus, richtet all seine schöpferischen Kräfte nach dem und auf das Leben aus. Seine ästhetischen Urteile, seine Kunstwerke, seine künstlerische Auffassung des Lebens und sein Interpretieren ist keinesfalls interesselos, sinnlos. Er bezweckt mit seinem künstlerisch-geistigen Schaffen eine Vermenschlichung oder Vergeistigung des Daseins und will das Leben nicht nur denkbar, begreifbar und berechenbar, sondern auch desiderabel machen. Dies ist sein unterster Instinkt und seine höchste Leistung zugleich.
13.4 Die Psychologie des tragischen Künstlers
Dass der Künstler die Dinge idealisiert, bedeutet nicht, die Welt in eine „wahre“ und eine „scheinbare“ zu unterscheiden, wie das Christentum und der Idealismus es taten. Es ist auch kein Widerspruch, dass der Künstler den Schein höher als die Realität schätzt: „Denn „der Schein“ bedeutet hier die Realität noch einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur … Der tragische Künstler ist kein Pessimist, – er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist dionysisch …“ (GD, KSA 6.79)
Die Dinge, die Welt, das Leben zu idealisieren, vermenschlichen, vergeistigen und interpretieren heißt, sie zu verklären. Der tragische Künstler weiß von vornherein, dass das Leben problematisch, furchtbar und fragwürdig, sogar aporetisch ist. Er negiert nicht das Leben, sondern stellt sich ihm und verklärt es. Auf diese Weise verleiht er dem Leben eine positive Bedeutung und einen positiven Sinn. Gerade dies tut der Künstler exemplarisch im dionysischen Zustand:
Im dionysischen Zustande ist das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (– ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten). (GD, KSA 6.117)[198]
Dass die Kunst in Richtung Leben strebt und der Künstler einen inneren Kampf kämpft und sich durch die Werte „schön“ und „hässlich“ ein Wunschbild vom Leben schafft, das das Leben kostbar und sinnreich macht, zeigt die psychologische Seite der physiologischen Auffassung des Lebens auf. Die Vergeistigung der Dinge gehört sowohl zur Physiologie als auch zur Psychologie des Menschen bzw. des Künstlers.
— Seite — Page 225Ist aber die Vergeistigung nicht ein Symptom des niedergehenden Lebens? Denn Nietzsche geht in Aphorismus 14 aus den Streifzügen eines Unzeitgemässen davon aus, dass der Gesamtaspekt des Lebens nicht die Notlage, sondern die Üppigkeit ist. Er wendet daher gegen Darwins Theorie ein, dass es nicht bloß ums Leben, sondern um das reine Streben nach Macht geht. Außerdem zeigt sich im Leben der Fortschritt nicht als Sieg der Starken, im Gegenteil: Die Schwachen sind geistig stärker als die Starken. In diesem Kontext ist ausgerechnet der Geist, „die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Theil der sogenannten Tugend)“ (GD, KSA 6.121), entscheidend. Der Verdacht, dass der Geist das absteigende Leben in sich birgt und zur Erscheinung bringt, wird auch von der Tatsache gestützt, dass „mimicry“ von Nietzsche für gewöhnlich als Kennzeichen eines schwachen Willens angesehen wird.
Das stellt aber keinen Widerspruch dar. Die Vergeistigung der Dinge würde sich nur als Symptom des entarteten Lebens erweisen, wenn man den Geist verabsolutiert und man dem „großen Irrtum“ erliegt, die Vernunft nicht als Mittel, sondern als Ursache[199] der Erkenntnis zu verstehen. Nietzsche ist sich daher dessen bewusst, dass es notwendig ist, neben die Vernunft die Kunst zu stellen.[200] Die angeführten Bemerkungen über den tragischen Künstler sind in dieser Hinsicht außerordentlich wichtig. Er verklärt das Leben und feiert in der Verklärung seine Saturnalien.
Die Tapferkeit und Freiheit des Gefühls vor einem mächtigen Feinde, vor einem erhabenen Ungemach, vor einem Problem, das Grauen erweckt – dieser siegreiche Zustand ist es, den der tragische Künstler auswählt, den er verherrlicht. Vor der Tragödie feiert das Kriegerische in unserer Seele seine Saturnalien; wer Leid gewohnt ist, wer Leid aufsucht, der heroische Mensch preist mit der Tragödie sein Dasein, – ihm allein kredenzt der Tragiker den Trunk dieser süssesten Grausamkeit. – (GD, KSA 6.127f.)
Mit den Saturnalien ist das Wissen verbunden, dass die Kunst täuscht, aber ohne zu schaden, sondern derart, dass auch der Unsinn sinnhaft wird, weil er dem Menschen Freude bringt, ihn entspannt und befreit.[201] Indem der Künstler die Dinge verklärt und — Seite — Page 226damit dem Leben einen Sinn gibt, übt er seine pia fraus, sein Recht zur Lüge aus.[202] Schließlich ist nicht zu verkennen, dass Nietzsche eine reine Vergeistigung der Dinge im Sinne einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Wesens der Dinge von Beginn an verwirft. Wie gezeigt, betrachtet Nietzsche die Wissenschaft als epochales Phänomen. Sie ist die letzte Phase des Nihilismus, den man nur hemmen oder beschleunigen, aber nicht aufhalten kann.[203] Nietzsche stellt der Wissenschaft bzw. dem Nihilismus die Kunst als Gegenstück, als Stimulans zum Leben entgegen und versucht, prometheisch die Bedingungen vorzubestimmen, die es uns ermöglichen würden, aus dem Nihilismus herauszutreten und so eine neue Gesellschaft, ein neues Leben zu schaffen. Damit kommen wir wieder an die Stelle, von der Nietzsche ausging: GT. Hier stellt Nietzsche das dar, was zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, nämlich
eine tiefsinnige Wahnvorstellung, […] jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss: auf welche es eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehn ist. (GT, KSA 1.99)
Sieht Nietzsche in GT die Kunst „als Schutz und Heilmittel“ (GT, KSA 1.101) an, um „die tragische Erkenntniss“ ertragen zu können, erweisen sich die Kunst und die Verklärung in GD als der schöpferische, dionysische Zustand schlechthin. An diesem dionysischen Zustand betont Nietzsche den Willen, „über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schliesst …“ (GD, KSA 6.160) Er schätzt also weiterhin das Pathos und die Zeugung, insbesondere die künstlerische Schöpfung:
In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die „Wehen der Gebärerin“ heiligen den Schmerz überhaupt, – alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz … Damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muss es auch ewig die „Qual der Gebärerin“ geben … Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der Dionysien. In ihr ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden, – der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der heilige Weg … (GD, KSA 6.159f.)
Durch das Dionysische errät Nietzsche „die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters“ (GD, KSA 6.160), und so geht die physiologische Auffassung in eine psy — Seite — Page 227chologische über. Es wäre wohl sinnvoller, von einer ästhetischen Auffassung des Lebens zu sprechen, die beide in sich einschließt. Vom Standpunkt einer tragischen Erkenntnis aus hat man das nötig, was man vernichten muss. Man vernichtet, um etwas Neues zu schaffen. Schaffen und Vernichten sind aufeinander angewiesen – und dementsprechend beide auf die Zeit. Wir schaffen immer neue Ideale, nachdem wir die alten abgeschafft haben und umgekehrt. Der Mensch lebt nie ohne Ideale, weil er einer Rechtfertigung des Daseins und der Welt bedarf. Er ist ein Lebewesen, das durch seine dichtende, „Ideale“ schaffende Vernunft die Welt und das Dasein nach seinen Bedürfnissen interpretiert und sich zurechtmacht.
Wenn Nietzsche sagt: „– ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft …“ (GD, KSA 6.160), muss man sich vergegenwärtigen, was Zarathustra in Bezug auf sich selbst sagt: „Die Dichter lügen und Zarathustra ist ein Dichter.“ Nietzsche ist selbst ein Dichter, nicht nur, weil er Gedichte schreibt, sondern auch, weil er sich selbst als Dichter bezeichnet („Nur Narr! Nur Dichter!“). Er lügt, ließe sich hinzufügen, aber ohne schaden zu wollen. Dies wird am Beispiel von Goethe ersichtlich:
Ein solcher freigewordner Geist [Goethe] steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht – er verneint nicht mehr … Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft. – (GD, KSA 6.152)
Achtet man auf die Sperrungen im Zitat, fällt die Nötigung des Glaubens auf. Was Nietzsche hier auf den Namen Dionysos tauft, ist nicht die Idee, der Begriff, sondern ausschließlich der Glaube, dass sich „im Ganzen“ alles erlöst und bejaht. Das ist das höchste aller möglichen Glaubensbekenntnisse. Um diese Aussage und ihre Konsequenzen zu verstehen, ist auf Nietzsches Wahrheitsbegriff zurückzugehen: Die Wahrheit ist für Nietzsche ein „Für-wahr-Halten“ und verbirgt in sich Hoffnungen und Wirkungen auf die Zukunft und den Glauben. Obwohl der Mensch davon ausgeht, er sei imstande, die Welt und das Leben zu begreifen, weil er durch seine Begriffe die Wahrheit und das Wesen der Dingen treffen könne, stellt die Logik, auf der die Erkenntnis beruht, wie Nietzsche 1887 notiert, den Versuch dar, „nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger, uns formulirbar, berechenbar zu machen …“ (NL 9[97], KSA 12.391) Wie bereits bei JGB betont, geht es Nietzsche nicht darum, ob eine wahre, der Wirklichkeit adäquate Erkenntnis möglich wäre. Er ist der Ansicht, dass es nur Irrtümer gibt. Daher untersucht er die Wahrheit – wie im Falle der Urteile a priori – aus der Perspektive ihrer Funktionalität für und ihrer Wirkung auf das Leben. Ihn interessiert, ob die Wahrheit eine Überzeugung oder eine Lüge, ob sie lebensverneinend oder lebenssteigernd ist. In diesem Zusammenhang ist die psychologische Erklärung der Ursachesetzung der Wahrheit ausschlaggebend, die Nietzsche im Abschnitt über „die vier grossen Irrthümer“ gibt:
— Seite — Page 228die erste Vorstellung, mit der sich das Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie „für wahr hält“. Beweis der Lust („der Kraft“) als Criterium der Wahrheit. – Der Ursachen-Trieb ist also bedingt und erregt durch das Furchtgefühl. Das „Warum?“ soll, wenn irgend möglich, nicht sowohl die Ursache um ihrer selber willen geben, als vielmehr eine Art von Ursache – eine beruhigende, befreiende, erleichternde Ursache. Dass etwas schon Bekanntes, Erlebtes, in die Erinnerung Eingeschriebenes als Ursache angesetzt wird, ist die erste Folge dieses Bedürfnisses. Das Neue, das Unerlebte, das Fremde wird als Ursache ausgeschlossen. (GD, KSA 6.93)
Wahrheit wird also nicht rational ermittelt, sondern nach existentiellen Kriterien festgestellt. Die von uns für naturgemäß gehaltene Normativität geht aus einem triebhaften Bedürfnis hervor, dem Ursachen-Trieb, und drückt eine Art von Ursache aus. Sie ist das Resultat eines Auswahlprozesses, in dem der Mensch auf die Befreiung von seinem Furchtgefühl zugunsten eines Lustgefühls abzielt. Das, was man für wahr hält, hat eine bedingende, lebenssteigernde Funktion und gewinnt daher an pragmatischer Plausibilität.[204] Die Wahrheit ist ein Experiment, nicht im Sinne einer Überprüfung, sondern eines Ausprobierens.
In GD schreibt Nietzsche: „Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiss, der legt wenigstens einen Sinn noch hinein: das heisst, er glaubt, dass ein Wille bereits darin sei (Princip des „Glaubens“).“ (GD, KSA 6.61f.) Glaube und Sinn lassen sich vom Willen unterscheiden. Diese Unterscheidung liegt nicht in der Differenz zwischen einer objektiv beweisbaren Tatsache und einer inneren Überzeugung, einem Fürwahrhalten von Dingen, die objektiv nicht bewiesen sind, denn es ist – wie gezeigt – Nietzsches Einsicht, die Welt sei „Wille zur Macht und nichts außerdem“, eine Hypothese, eine Dichtung. In Bezug auf das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen könnte man vielleicht vermuten, dass Nietzsche die Sinnsetzung als Willensschwäche betrachtet. Der Ausdruck der Willensstärke ist dagegen die Sinnerfindung und zugleich die Kraft, passend zu handeln und auf andere Menschen zu wirken. Der Wille zur Macht kann nicht anders als Sinnerfindung sein: Das stützt sich auf die bisher durchgeführte Interpretation und insbesondere auf Nietzsches Aussage, dass die Welt „einen „nothwendigen“ und „berechenbaren“ Verlauf habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht.“ (JGB, KSA 5.37) So lässt sich Nietzsches Behauptung deuten, die Frage nach dem Sinn des Lebens sei keine philosophische Frage.
13.5 Der Einzelne und das Ganze
Das Verhältnis, das Nietzsche in der letzten bejahenden Phase seines Philosophierens am meisten interessiert und ins Zentrum seiner Betrachtungen rückt, ist das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen. In dessen Bestimmung liegt das Wirkungspo — Seite — Page 229tential von Nietzsches Philosophie. Er geht davon aus, dass „die Wirklichkeit uns einen entzückenden Reichthum der Typen, die Üppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels [zeigt]“ (GD, KSA 6.86), so dass es naiv wäre zu bestimmen, wie der Mensch sein oder dass er anders sein sollte. Daher ist „die Moral, insofern sie verurtheilt, an sich, nicht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens, ein spezifischer Irrthum“ (GD, KSA 6.87). Nietzsche fährt fort: „Der Einzelne ist ein Stück fatum, von Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für Alles, was kommt und sein wird.“ Diese Aussage ist, wie jede andere auch, nur in Bezug auf ihren Kontext auszulegen. In GD wird das Individuum auf das Ganze bezogen und in diesem Verhältnis interpretiert. Jeder gehört zum Ganzen und ist in Bezug auf das Ganze zu denken, denn „es giebt Nichts ausser dem Ganzen!“ (GD, KSA 6.96) Den Einzelnen auf das Ganze zu beziehen, heißt Nietzsche zufolge, das Schuldgefühl zu relativieren und dementsprechend die Welt vom Schuldgefühl zu erlösen. Der Mensch wird damit von der Verantwortlichkeit befreit, dass mit ihm der Versuch gemacht wird, „ein „Ideal von Mensch“ oder ein „Ideal von Glück“ oder ein „Ideal von Moralität“ zu erreichen“. Wie in Bezug auf den Wert des Lebens gezeigt: „es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurtheilen …“ Nietzsches „Lehre“ lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Dass Niemand dem Menschen seine Eigenschaften giebt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst (– der Unsinn der hier zuletzt abgelehnten Vorstellung ist als „intelligible Freiheit“ von Kant, vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden). Niemand ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird. […] Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als „Geist“ eine Einheit ist, dies erst ist die grosse Befreiung, – damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt … (GD, KSA 6.96f.)
Damit will Nietzsche keinen Determinismus oder Mechanismus in seine Philosophie einführen. Er lehnt die Teleologie ab und zielt auf den bejahenden Zustand des amor fati. Gegen die christliche Moral, die die Welt verurteilt und moralisiert, will Nietzsche die Notwendigkeit des Lebens bejahen. Er fördert jene Ökonomie des Lebens, „welche alles Das noch braucht und auszunützen weiss, was der heilige Aberwitz des Priesters, der kranken Vernunft im Priester verwirft, für jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen species des Muckers, des Priesters, des Tugendhaften ihren Vortheil zieht“ (GD, KSA 6.87). Daher versucht Nietzsche, das Individuum aus der Perspektive des Lebens zu beurteilen. Er deutet das Individuum nicht als einen „Ring der Kette“ wie in MA, sondern als Ausdruck der ab- oder aufsteigenden Linie des Lebens:
Jeder Einzelne darf darauf hin angesehen werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht werth ist. Stellt er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der That sein Werth
— Seite — Page 230ausserordentlich, – und um des Gesammt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt weiter thut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaffung seines optimum von Bedingungen selbst extrem sein. Der Einzelne, das „Individuum“, wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist ja ein Irrthum: er ist nichts für sich, kein Atom, kein „Ring der Kette“, nichts bloss Vererbtes von Ehedem, – er ist die ganze Eine Linie Mensch bis zu ihm hin selber noch … Stellt er die absteigende Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar (– Krankheiten sind, in’s Grosse gerechnet, bereits Folgeerscheinungen des Verfalls, nicht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Werth zu, und die erste Billigkeit will, dass er den Wohlgerathenen so wenig als möglich wegnimmt. Er ist bloss noch deren Parasit … (GD, KSA 6.131f.)
Dass es die ab- oder aufsteigende Linie des Lebens verkörpert, ist für das Individuum selbst zwar lebensbestimmend, aber nur auf physiologischer Ebene, und auf diese Weise ist er ein Stück fatum. Was der Einzelne psychologisch, philosophisch und geschichtlich zustande bringen kann, liegt zum großen Teil in seinen Händen. Der Einzelne hat zwar eine sich auf das Ganze beziehende Individualität, er verflüchtigt sich damit aber nicht in das Ganze: Er bekommt vielmehr eine notwendige Stelle als Teil des Ganzen. Das Ganze hingegen ist nicht bloß die Gesellschaft oder die Kultur: Es ist vielmehr das Leben, das sich jeweils ab- und aufsteigend entfaltet und sich geschichtlich in schwachen und starken Individuen ausdrückt. Nietzsche sieht die Werte daher als Symptome des Lebens an, belegt die Kluft zwischen schwachen und starken Menschen physiologisch und kommt damit seiner Forderung einer Rangordnung nach. So stellt er das Leben als Gesamtleben dar und gewinnt dadurch ein Paradigma, an dem er die individuellen Existenzen messen und rechtfertigen kann. Die äußersten Extreme der Hierarchie sind auf der einen Seite der Parasit,[205] dem der Sinn vom und das Recht zum Leben verloren ging, und auf der anderen Seite das Genie, die höchste Verkörperung des aufsteigenden Lebens. Nietzsches Absicht ist, eine Rechtfertigung des Wertes der Genies zu geben:
Grosse Männer sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist, – dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das „Genie“, die „That“, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an „Zeitgeist“, an „öffentlicher Meinung“! (GD, KSA 6.145)
13.6 Die Umwertung aller Werte als „Schicksal von Aufgabe“
Durch den Rekurs auf die allgemeine Perspektive des Lebens will Nietzsche der Größe des Menschen selbst mehr Aufmerksamkeit schenken. Große Menschen kämpfen — Seite — Page 231große Kriege, weil sie nach der großen Befreiung streben, trotz der großen Gefahr, der sie sich aussetzen. Die Größe des Menschen besteht aber auch in der Fähigkeit, dem Leben einen großen Stil zu verleihen. Wie Nietzsche am Beispiel des Architekten zum Ausdruck bringt, handelt es sich um einen „Willensakt“ und „Rausch des grossen Willens“, der im Kunstwerk sein höchstes Gefühl der Macht zum Ausdruck bringt:
Der Architekt stellt weder einen dionysischen, noch einen apollinischen Zustand dar: hier ist es der grosse Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des grossen Willens, der zur Kunst verlangt. Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspirirt; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was grossen Stil hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat; die es verschmäht, zu gefallen; die schwer antwortet; die keinen Zeugen um sich fühlt; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie giebt; die in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen: Das redet als grosser Stil von sich. – (GD, KSA 6.118f.)
Der exaltierte Ton in GD und die ständige Hervorhebung der großen Gefahr, der großen Männer, des großen Stils, des zu kämpfenden großen Krieges, der angestrebten großen Befreiung, in einem Wort: des großen Lebens veranlasst zur Frage: Was haben große Menschen in die Tat umzusetzen? Die Antwort lautet: lange und große Aufgaben.
Man gründet eine Institution nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht, wie gesagt, auf die „Liebe“, – man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigenthumstrieb (Weib und Kind als Eigenthum), auf den Herrschafts-Trieb, der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisirt, der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes Maass von Macht, Einfluss, Reichthum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits die Bejahung der grössten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen Sinn. (GD, KSA 6.142)
Dem abstrakten Gesamtleben gibt Nietzsche die konkrete Form der Ehe, der Gesellschaft und der Menschheit. Das Ganze ist die Gesellschaft, die Nietzsche als „dauerhafteste Organisationsform“ versteht, die auf dem Herrschaftstrieb gründet und in der jede Institution einen Sinn bekommt. Damit diese Organisationsform als Ganze für sich funktionieren kann, ist es unausweichlich, sich ihre Vorbedingungen einzuverleiben, so dass sie als Instinkte in den Menschen wachsen. Dazu braucht man nicht nur lange Aufgaben, sondern auch Erzieher, die die Gesellschaft als Ganze bilden können, indem sie ihre höchste Form umgestalten: die Kultur.
Ich stelle, um nicht aus meiner Art zu fallen, die jasagend ist und mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig zu thun hat, sofort die drei Aufgaben hin, derentwegen man Erzieher braucht. Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen und schreiben zu lernen: das Ziel in allen Dreien ist eine vornehme Cultur. (GD, KSA 6.108)
— Seite — Page 232Durch diese drei Aufgaben gewöhnt sich der Mensch die Ruhe, die Geduld und das Ansich-herankommen-Lassen an. Das ist die unumgängliche „Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort reagiren, sondern die hemmenden, die abschliessenden Instinkte in die Hand bekommen.“ Diese Geistigkeit war das, „was Goethe als Person erstrebte: eine Universalität im Verstehn, im Gutheissen, ein An-sich-herankommen-lassen von Jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen.“ (GD, KSA 6.152) Goethe ließe sich daher als Erzieher, freier Geist und überdies als europäisches Ereignis und Experiment einer Überwindung des 18. Jahrhunderts verstehen:
Goethe – kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein Hinaufkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts. – Er trug dessen stärkste Instinkte in sich: die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (– letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische Thätigkeit; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (– in abschreckendster Scholastik durch Kant gepredigt, den Antipoden Goethe’s), er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich … Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte Ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war, – er hatte kein grösseres Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse sie nun Laster oder Tugend … (GD, KSA 6.151)
Goethes Rückkehr zur Natur bedeutet, dass er wieder ein guter „Nachbar der nächsten Dinge“ wird. Dem Menschen ist seine Leiblichkeit am nächsten. Goethe verkörpert das Genie, das der in seiner Zeit zur Krankheit gewordenen Entsinnlichung eine Vergeistigung und Vervielfältigung der Sinnlichkeit entgegenstellt, indem er der Feinheit, der Fülle und Kraft der Sinne das Beste vom Geist bot, das er hatte. Die Vergeistigung der Sinnlichkeit setzt eine Selbstdisziplinierung voraus, die sich ihrerseits als Selbstschöpfung und Selbstverklärung erweist, wie sich aus einer Nachlassstelle folgern lässt: „es ist ein Merkmal der Wohlgerathenheit, wenn Einer gleich Goethen mit immer größerer Lust und Herzlichkeit an „den Dingen der Welt“ hängt: – dergestalt nämlich hält er die große Auffassung des Menschen fest, daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt.“ (NL 37[12], KSA 11.587f.) Was bei Goethe unmittelbar zum Ausdruck kommt, ist die Idee, dass die Verklärung des Genies nicht nur lebensbedingend, sondern auch lebensbedingt ist. Aus diesem Grund diszipliniert sich das Genie zur Ganzheit. Nietzsche verleiht der Aufgabe des Philosophen vor diesem Hintergrund eine doppelte Bedeutung: Sie be — Seite — Page 233ruht auf der einen Seite auf der individuellen Lebensnotwendigkeit des Philosophen, unbrauchbare, lebensfeindliche Werte abzuschaffen und neue, lebensfördernde zu erfinden. Auf der anderen Seite beruht sie auf der geschichtlichen Notwendigkeit der Wertesetzung. Indem „im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht“ und infolgedessen die Aufgabe in Hinblick auf die Gesellschaft, die Menschheit und die Geschichte gestellt wird, wird sie zu einer „Berufung“.[206] Ein Mensch, der sich als Teil des Ganzen fühlt, sieht seine Arbeit als Berufung. Das Genie hingegen, das sein Handeln in den Verlauf der Geschichte einbezieht, fühlt sich als berufen und ‚lebt seiner Aufgabe‘: Es erlebt sich als lebensbedingt und -bedingend zugleich. Dementsprechend konzipiert das Genie sein Leben und seine Aufgabe als Schicksal: „– Eine Umwerthung aller Werthe, dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den wirft, der es setzt – ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln.“ (GD, KSA 6.57)
Wie für EH noch zu erörtern ist, legt Nietzsche seine Aufgabe der Umwertung aller Werte als Lebensaufgabe und als Herausforderung an die Menschheit aus.
FußnotenFootnotes
- 193
Nietzsche bezieht sich auf die in seiner Zeit populärste Wissenschaft, die Physiologie. Vgl. Orsucci, Orient-Okzident.
- 194
„Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen!“ „Auch Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte, – sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss machen, das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer … Die „Vernunft“ ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht … Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die „scheinbare“ Welt ist die einzige: die „wahre Welt“ ist nur hinzugelogen …“ (GD, KSA 6.75)
- 195
Ein passendes Beispiel dafür ist GM und der hier hervorgehobene Unterschied zwischen Herren- und Sklavenmoral.
- 196
Die hier zum Ausdruck gebrachte Idee, dass das Leben ein Prozess der Wertsetzung ist, hat Nietzsche bereits 1882 in der Entstehungszeit von Z entworfen: „234. Der Werth des Lebens liegt in den Werthschätzungen: Werthschätzungen sind Geschaffenes, nichts Genommenes, Gelerntes, Erfahrenes. Das Geschaffene muß vernichtet werden, um dem neu-Geschaffenen Platz zu machen: zum Lebenkönnen der Werthschätzungen gehört ihre Fähigkeit, vernichtet zu werden. Der Schöpfer muß immer ein Vernichter sein. Das Werthschätzen selber aber kann sich nicht vernichten: das aber ist das Leben.“ (NL 5[1], KSA 10.214)
- 197
Siehe dazu GD, Streifzüge 8–10, KSA 6.116f.
- 198
Die Unfähigkeit, nicht zu reagieren, ist nicht das Kennzeichen eines schwachen, degenerierten Willens. Man muss dabei den Kontext beachten: Im dionysischen Zustand ist diese Unfähigkeit „die Leichtigkeit der Metamorphose“: „Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig.“ (GD, KSA 6.118)
- 199
„Der Mensch hat seine drei „inneren Thatsachen“, Das, woran er am festesten glaubte, den Willen, den Geist, das Ich, aus sich herausprojicirt, – er nahm erst den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die „Dinge“ als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache. Was Wunder, dass er später in den Dingen immer nur wiederfand, was er in sie gesteckt hatte?“ (GD, KSA 6.91)
- 200
Siehe vor allem FW 290.
- 201
Vgl. dazu Aphorismus 213 aus MA: „Freude am Unsinn. – Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben? So weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist diess der Fall; ja man kann sagen, fast überall wo es Glück giebt, giebt es Freude am Unsinn. Das Umwerfen der Erfahrung in’s Gegentheil, des Zweckmässigen in’s Zwecklose, des Nothwendigen in’s Beliebige, doch so, dass dieser Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Uebermuth vorgestellt wird, ergötzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des Nothwendigen, Zweckmässigen und Erfahrungsgemässen, in denen wir für gewöhnlich unsere unerbittlichen Herren sehen; wir spielen und lachen dann, wenn das Erwartete (das gewöhnlich bange macht und spannt) sich, ohne zu schädigen, entladet. Es ist die Freude der Sclaven am Saturnalienfeste.“ (MA, KSA 2.174). Dazu auch FW, Vorrede.
- 202
Siehe dazu GD, KSA 6.102.
- 203
„Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter in der décadence (– dies meine Definition des modernen „Fortschritts“ …) Man kann diese Entwicklung hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht. –“ (GD, KSA 6.144)
- 204
Dazu Pietro Gori, Nietzsche’s Pragmatism. A Study on Perspectival Thought, Berlin 2019.
- 205
„Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom Leben, das Recht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn.“ (GD, KSA 6.134)
- 206
„Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht „Berufe“, genau deshalb, weil sie sich berufen weiss …“ (GD, KSA 6.108)
QuelleSource
- Nietzsches Herausforderung an sich selbst und an die Menschheit
- MTNF
- 75
- Christian J. Emden; Helmut Heit; Vanessa Lemm; Claus Zittel
- Mazzino Montinari; Wolfgang Müller-Lauter; Heinz Wenzel
- De Gruyter | 2021
- 978-3-11-070182-1